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Eine Geste, die aufleben
lässt
Nach meiner Ankunft in Montréal ass ich beim Präsidenten
der Bischofskonferenz von Québec. Dieser berichtete von
einem Ereignis, das sich vor kurzem zugetragen hatte und das
für ihn äußerst wichtig war.
Das Kreuz der Weltjugendtage war in seiner Diözese angelangt.
An verschiedenen Orten waren Feiern vorgesehen. Der Bischof wünschte,
dass das Kreuz auch ins Haus der jungen Delinquenten gebracht
werde. Was auch geschah. |
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Einige Tische wurden zusammengerückt, das Kreuz wurde
drauf gestellt. Die Jugendlichen liefen herbei, um das Kreuz
mit ihren Händen zu berühren. Sie ließen ihre
Hände einen Moment auf dem Kreuz ruhen, wie um daraus Kraft
und Leben zu schöpfen. Vielleicht wollten sie mit dieser
vertrauensvollen Geste ausdrücken, dass sie anerkannt, geliebt,
geachtet werden wollten, und so in der Gesellschaft leben wie
die anderen jungen Leute? Jedenfalls bat einige Tage später
etwa ein Dutzend von ihnen den Bischof, sie zu firmen. Wie ein
guter Hirte erfüllte der Bischof dieses Begehren, ohne ihnen
Hindernisse in den Weg zu legen, und zeigte so, dass diese jungen
Rechtsbrecher in den Augen Gottes wertvoll sind.
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Diese evangelische Szene bewegte mich sehr, und ich erzählte
sie am nächsten Tag vor etwa fünftausend Zuhörern.
Die Menge applaudierte. |
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Tunesien: Nur die Toten
haben das Recht, die Stimme der Opposition zu hören
Eine Delegation aus Marseille und Paris war nach Tunis
gereist, um ihre Solidarität mit mehreren Gefangenen zum
Ausdruck zu bringen, besonders mit Hamma Hammami, einem der wichtigsten
Vertreter der Widerstandsbewegung. Seine Frau, eine bekannte
Anwältin, erwartete uns am Flughafen.
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Meine Bewunderung für Hamma Hammami ist gross. Seit 1972
führt er seinen mutigen Kampf. Dreißig Jahre Verfolgung!
Er kennt praktisch alle Strafanstalten Tunesiens, vor allem das
düstere Gefängnis von Nadhor. Wie kann dieser Mann
noch überleben - nach all der Folter, die er ertragen musste? |
Die Polizei begleitete und überwachte uns auf Schritt
und Tritt. Vor dem Gefängnis von Tunis wurden wir rücksichtslos
auseinandergetrieben. Den Fernsehteams von France 3 und Arte,
die die Szene filmen wollten, wurde das Material beschlagnahmt,
und das BBC-Team wurde anderthalb Stunden festgehalten. Auch
wurde die vorgesehene Pressekonferenz bei einer Privatperson
verboten.
Der einzige Zufluchtsort, der sich den Oppositionellen
während dieser traurigen Tage bot, war ein Friedhof auf
dem Land, etwa 120 km von Tunis, mitten in der beruhigenden Stille
und der Schönheit der Getreidefelder und Olivenhaine, in
Gaafour. Hier kamen sie wie jedes Jahr zusammen, die Linksaktivisten,
Gewerkschafter, Verteidiger der Menschenrechte, vor dem bescheidenen
Grab von Nabil Barakati, der vor 15 Jahren unter Bourguibas Folter
starb. Nabil war 27 Jahre alt. Für ganz Tunesien bleibt
er eine bedeutende Figur des Widerstandes.
Dort, und nur dort, konnten wir frei miteinander reden.
Ein seltsamer Ort für eine Zusammenkunft, dieser einsame
Friedhof mitten in den Feldern. Einige verstreute Polizeiautos
hielten sich aber trotzdem in Sichtweite auf.
Nur die Toten, die Blumen und die Vögel haben das Recht,
sich die Reden dieser Kämpfer für die Menschenrechte
anzuhören. |
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Sollten die Tunesier dessen etwa nicht würdig sein?
Es herrscht die totale Überwachung, die Repression trifft
alle. Wer das Regime von Ben Ali gutheißt, hat Angst -
oder irgendwelche Interessen.
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Wir bilden an Nabils Grab eine große Familie. Man erteilt
mir das Wort. Ich spreche von diesem kleinen Lehrer mit dem großen
Herzen, der keine Obrigkeit fürchtete, der aber von den
Behörden so gefürchtet wurde! Weil er ein freier Mann
war. Auf seinem Grab steht auf arabisch: "Gottes Barmherzigkeit
möge ihn zudecken". |
Nabil würde es verdienen, selig gesprochen zu werden! |
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Besetzung der "Cité
des Sciences et de l'Industrie"
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150 Sans-papiers haben diesen berühmten Ort besetzt,
um zu fordern, dass man ihnen einen regulären Status zuerkennt.
Diese Besetzung folgt auf diejenige des ehemaligen "Hauses
der Kolonien", wo auf einem riesigen Transparent geschrieben
stand: "Gestern im Süden kolonisiert, heute im Norden
ausgebeutet - gültige Papiere für alle". Diese
beiden während der Wahlkampagne durchgeführten illegalen
Aktionen verfolgten das Ziel, die geforderte Regelung für
die Sans-papiers, die sich im doppelten Schraubstock von Repression
und Ausbeutung befinden, |
wieder in den Katalog der übrigen sozialen Bestrebungen
aufnehmen zu lassen.
In der großen Eingangshalle des Zentrums für Industrie
und Wissenschaften veranstalten wir ein Sit-in mit Reden und
Liedern. Die Direktorin empfängt eine Delegation. Sie verzichtet
darauf, die Polizei zu rufen, und ist bereit, beim Sozialminister
zu intervenieren. |
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Mehrere Male hatte man uns Treffen mit dem Innenminister
vorgeschlagen, laut der Regierung der einzige Ansprechpartner,
um über das Problem der Sans-papiers zu verhandeln. Wir
hatten jedesmal abgelehnt, da es prinzipiell um die Achtung und
Anwendung der Grundrechte geht und nicht um Sicherheitsmaßnahmen,
die das Ziel haben, die Sans-papiers zu brandmarken.
Wir wurden vom Minister für "soziale Angelegenheiten
und Solidarität" empfangen - der Name passt -, um zu
verlangen, dass für die papierlosen Arbeiter dasselbe Recht
gilt wie für alle andern Arbeiter.
Der 15-er Gipfel in Sevilla will aus Europa eine unbezwingbare
Festung machen, obwohl in einem UNO-Rapport von 2001 in Bezug
auf das Bevölkerungswachstum steht, dass die demographische
Überalterung Europas die Sicherung der Renten gefährdet
und dass man gezwungen sein werde, außerhalb der Grenzen
Arbeitskräfte zu holen. |