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Chiapas - Bedrohte Hoffnung
Zum ersten Mal entdeckte ich diesen Flecken Erde, von dem so viel gesprochen
wird. Ich hatte von der internationalen zivilen Organisation zum Schutz
der Menschenrechte eine Einladung erhalten. Wir waren zweihundert Personen,
vorwiegend aus Europa, am zahlreichsten waren die Spanier.
Es waren vor allem junge, in Menschenrechtsfragen sehr engagierte Leute,
stark motiviert durch die Erfahrungen der Zapatisten in Chiapas. Fast alle
von ihnen sind kirchenfern, aber sie anerkennen die Würde der Volks-Kirche
von San Cristobal und ihres Oberhirten, Mgr. Samuel Ruiz, der in jüngster
Zeit zwei Attentaten entgangen ist.
Die mexikanischen Behörden und die Medien waren über die Anwesenheit
von uns Fremden ziemlich erbost und protestierten gegen diese Einmischung
in die inneren Angelegenheiten des Landes. Aber ohne diese Xenophobie, ohne
die Furcht der Behörden vor den Fremden hätten wir nicht Tag für
Tag die Aufmerksamkeit der Presse auf uns ziehen können!
Wie ist das große Echo, das durch die Vorfälle in Chiapas
weltweit ausgelöst wird, zu erklären? Wieso kommt dank diesem
kleinen Land - das ein Paradies sein könnte, wenn dort Friede herrschte
- am Ende dieses Jahrhunderts eine derartige Hoffnung auf? Ist es wegen
der symbolhaften Persönlichkeit des Stellvertretenden Kommandanten
Marcos, der sowohl Stratege als auch Poet ist? Ist es wegen der Schönheit
des Landes und der von den Touristen geschätzten kulturellen Hauptstadt
San Cristobal de las Casas? Dies alle spielt sicher mit, aber der entscheidende
Grund scheint mir ein anderer zu sein. Die Art, zu leben und sich zu organisieren,
die man nun in Chiapas beobachten kann, kann weltweit als einzigartig betrachtet
werden. Es geht um eine von der einheimischen Bevölkerung ausgehende
Revolution, welche die Macht nicht an sich reißen, sondern aufbauen
will. Die Zivilgesellschaft soll an die Macht kommen. Es ist eine andere
Demokratie, nicht eine repräsentative, sondern eine partizipative,
auf die Teilhabe aller gegründete Form der Demokratie. Und Tradition
und moderne Bestrebungen harmonieren hier aufs allerschönste! Auf Spruchbändern
las ich Worte des Anführers Marcos, Worte, die dieser Revolution Sinn
verleihen:
- "Wir sind die rebellische Würde,
- das vergessene Herz der Heimat.
- Die rebellische Würde des FZLN (*)
- ergibt sich nicht, verkauft sich nicht."
- (*Zapatistische Front der Nationalen Befreiung)
Diese Bewegung, die seit 1994 von soviel Hoffnung getragen wird, ist
nun in Gefahr. Dem an Weihnachten von paramilitärischen Truppen verübten
Massaker fielen 45 Menschen zum Opfer, vor allem Frauen und Kinder; 34 Personen
wurden verwundet.
Ein französischer Priester, Michel Chanteau, seit 32 Jahren Pfarrer
im Dorf Chenalho, wo sich das Drama abspielte, hatte den Mut, die Mitverantwortlichkeit
der Regierung anzuprangern. Worauf er sogleich ausgewiesen wurde.
Ich hatte meinen letzten Abend mit ihm und einigen Freunden zusammen
in San Cristobal verbracht. Er wußte, dass er in Lebensgefahr war,
aber es war sein Wunsch, bei den Indios zu bleiben, wie ein guter Hirte,
allen Risiken zum Trotz.
Seine Abschiebung wird andere dazu bewegen, in dieses außergewöhnliche
Land zu kommen - oder zurückzukommen -, damit die Hoffnung nicht im
Keim erstickt wird.
Jacques Gaillot
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