Brief von Jacques Gaillot
vom 1. April 1998


 

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Chiapas - Bedrohte Hoffnung

 

Zum ersten Mal entdeckte ich diesen Flecken Erde, von dem so viel gesprochen wird. Ich hatte von der internationalen zivilen Organisation zum Schutz der Menschenrechte eine Einladung erhalten. Wir waren zweihundert Personen, vorwiegend aus Europa, am zahlreichsten waren die Spanier.

Es waren vor allem junge, in Menschenrechtsfragen sehr engagierte Leute, stark motiviert durch die Erfahrungen der Zapatisten in Chiapas. Fast alle von ihnen sind kirchenfern, aber sie anerkennen die Würde der Volks-Kirche von San Cristobal und ihres Oberhirten, Mgr. Samuel Ruiz, der in jüngster Zeit zwei Attentaten entgangen ist.

Die mexikanischen Behörden und die Medien waren über die Anwesenheit von uns Fremden ziemlich erbost und protestierten gegen diese Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes. Aber ohne diese Xenophobie, ohne die Furcht der Behörden vor den Fremden hätten wir nicht Tag für Tag die Aufmerksamkeit der Presse auf uns ziehen können!

Wie ist das große Echo, das durch die Vorfälle in Chiapas weltweit ausgelöst wird, zu erklären? Wieso kommt dank diesem kleinen Land - das ein Paradies sein könnte, wenn dort Friede herrschte - am Ende dieses Jahrhunderts eine derartige Hoffnung auf? Ist es wegen der symbolhaften Persönlichkeit des Stellvertretenden Kommandanten Marcos, der sowohl Stratege als auch Poet ist? Ist es wegen der Schönheit des Landes und der von den Touristen geschätzten kulturellen Hauptstadt San Cristobal de las Casas? Dies alle spielt sicher mit, aber der entscheidende Grund scheint mir ein anderer zu sein. Die Art, zu leben und sich zu organisieren, die man nun in Chiapas beobachten kann, kann weltweit als einzigartig betrachtet werden. Es geht um eine von der einheimischen Bevölkerung ausgehende Revolution, welche die Macht nicht an sich reißen, sondern aufbauen will. Die Zivilgesellschaft soll an die Macht kommen. Es ist eine andere Demokratie, nicht eine repräsentative, sondern eine partizipative, auf die Teilhabe aller gegründete Form der Demokratie. Und Tradition und moderne Bestrebungen harmonieren hier aufs allerschönste! Auf Spruchbändern las ich Worte des Anführers Marcos, Worte, die dieser Revolution Sinn verleihen:

"Wir sind die rebellische Würde,
das vergessene Herz der Heimat.
Die rebellische Würde des FZLN (*)
ergibt sich nicht, verkauft sich nicht."
(*Zapatistische Front der Nationalen Befreiung)

Diese Bewegung, die seit 1994 von soviel Hoffnung getragen wird, ist nun in Gefahr. Dem an Weihnachten von paramilitärischen Truppen verübten Massaker fielen 45 Menschen zum Opfer, vor allem Frauen und Kinder; 34 Personen wurden verwundet.

Ein französischer Priester, Michel Chanteau, seit 32 Jahren Pfarrer im Dorf Chenalho, wo sich das Drama abspielte, hatte den Mut, die Mitverantwortlichkeit der Regierung anzuprangern. Worauf er sogleich ausgewiesen wurde.

Ich hatte meinen letzten Abend mit ihm und einigen Freunden zusammen in San Cristobal verbracht. Er wußte, dass er in Lebensgefahr war, aber es war sein Wunsch, bei den Indios zu bleiben, wie ein guter Hirte, allen Risiken zum Trotz.

Seine Abschiebung wird andere dazu bewegen, in dieses außergewöhnliche Land zu kommen - oder zurückzukommen -, damit die Hoffnung nicht im Keim erstickt wird.






Jacques Gaillot








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