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In der Bibel gelesen
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Nur Mut, er ruft dich
In der diesjährigen Fastenzeit erhielten die Personen,
die in der Diözese von Paris in der Osternacht getauft werden
sollten, eine Schärpe mit der Aufschrift "Hab Mut,
er ruft dich". Es sind Worte aus dem Markusevangelium,
Kapitel 10, Vers 49.
Jesus verlässt mit seinen Jüngern gerade Jericho,
als laute Rufe laut werden. Ein Blinder bittet Jesus: "Sohn
Davids, hab Erbarmen mit mir!" Jesus wendet sich an die
Menge: "Ruft ihn her!" Und die Leute rufen dem
blinden Bettler zu:"Hab Mut, er ruft dich."
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Diese Folge von Rufen ist nötig, damit der Blinde aufspringen
und zu Jesus hin laufen kann. |
Nichts wäre geschehen, wenn der Unglückliche
nicht gerufen hätte, wenn Jesus nicht darauf gehört
und wenn die Umstehenden seinen Aufruf nicht weitergegeben hätten.
"Hab Vertrauen!" Die Botschaft zwischen Jesus
und uns wird von unerwarteten, oft anonymen Mittelspersonen übertragen.
"Man" ruft ihn und "man" sagt
ihm. Diese Glieder der Kette zwischen Jesus und uns, die den
echten Kontakt ermöglichen, haben etwas Geheimnisvolles.
Man hat den Eindruck, dass oft alles durch eine Kleinigkeit entschieden
wird.
Das folgende Zwiegespräch - eine Frage und eine Antwort
- ist trotz ihrer scheinbaren Banalität ebenso erstaunlich.
"Was soll ich für dich tun?" - "Rabbuni,
ich möchte wieder sehen können!" Natürlich,
werden wir sagen, was sollte er denn sonst für Erwartungen
haben? Und doch ist Jesu Frage nicht unnütz, er weiss, dass
er diesem Mann durch das Augenlicht eine völlig neue Welt
eröffnen wird, eine Welt, die sich einer, der überhaupt
keine Bilder in sich trägt, gar nicht vorstellen kann.
Eine Welt, die einerseits wunderbar ist, die aber auch
Schattenseiten aufweist, schreckliche Dinge beinhaltet, die man
lieber nicht sehen möchte. Und darum besteht Jesus auf dieser
Frage: Willst du wirklich den Sprung ins Unbekannte wagen, wird
dich das nicht überfordern? In eine neue Welt eintreten,
einen fünften oder sechsten Sinn erhalten, "ich
möchte sehen" aussprechen, das bedeutet, dass man
das Risiko des emotionalen Schocks eingeht, das Risiko, die unvollständige
Art der Realitätswahrnehmung in Frage zu stellen, das Risiko,
den Sinn, den wir den Dingen und der Geschichte geben, zu erweitern
oder zu korrigieren ...
Sehen, besser sehen, in die Weite, die Breite und die Tiefe.
Sich nicht einbilden, dass man alles gesehen hat auf dem Gebiet
der Wissenschaft, der Spiritualität, des Evangeliums, der
Kirche. Und bis es soweit ist, müssen wir unsere Sehweise
unaufhörlich verbessern und wenn nötig von unseren
Brüdern und Schwestern Brillen akzeptieren, die besser oder
anders angepasst sind.
Der Mut zum Sehen ist nur möglich, wenn der Aufruf
Christi uns weckt und wenn wir ihm antworten - mit einem Vertrauen,
das stärker ist als unsere Ängste. Wie der Blinde seinen
Mantel weggeworfen hat und aufgesprungen ist, lassen wir den
lähmenden Panzer unserer Befürchtungen fallen - nur
so können wir aufspringen. In Wahrheit sehen wird zur Frucht
eines Glaubensaktes, der Ausdruck einer tieferen Vision: "Ja,
Herr, ich habe Vertrauen zu dir, der du mich zum Sehen aufforderst." |