Vatican
       
    Wir sind Brüder  
       
    «Franziskus ist kein Bürokrat.
Kein Gefangener der Institution.
Er ist einfach und frei geblieben.
Seine Menschlichkeit scheint durch».

Es ist ein grosses Glück und eine Freude,
so einen Mann als Papst zu haben!
«Wir sind Brüder».
Das waren seine ersten Worte bei der Begegnung.

Jacques Gaillot
 
 
Handgeschriebene Einladung des Papstes  
 
 
Lieber Jacques  
Die Armen sollen sich freuen und feiern und die Verdammten dieser Erde sich erheben! Es mussten also 20 lange Exiljahre vergehen, bis dein solidarisches Mitgehen mit den von der Gesellschaft ausgeschlossenen Männern und Frauen ? also mit denen, die Franziskus «Abfall, Müll» nennt ? auf höchster kirchlicher Ebene gewürdigt und als bischöflicher Dienst anerkannt wurde. Zu einem Zeitpunkt, wo die Gewinne der multinationalen Konzerne explodieren, wo Hunderttausende von Menschen, die nur leben wollen, ins Meer geworfen werden, ist es eine schöne und hochsymbolische Geste seitens Franziskus, um von der Kirche eine Kursänderung zu verlangen, damit sie wieder eine arme und dienende Kirche wird, und um sich gegen das mörderische Abdriften einer verrückt gewordenen Welt zu stellen. Taten zählen immer mehr als Worte?  
Pierre Niobey
Arbeiterpriester
 
«La Croix», le 2 septembre 2015  
Papst Franziskus und Mgr. Jacques Gaillot, eine Begegnung «unter Brüdern»  
Der ehemalige Bischof von Evreux, Monseigneur Jacques Gaillot, war nach eigener Aussage sehr bewegt nach dem ungezwungenen Gespräch, das am Dienstag, 1. September stattfand ? mit einem Papst, der «zuhören und auf seinen Gesprächspartner eingehen» kann.  
Ein eigenhändig geschriebener Brief vom Papst  
Am Tag nach der Begegnung mit Papst Franziskus am Dienstag, 1. September im Vatikan war Mgr. Jacques Gaillot immer noch «überwältigt». In Begleitung von Père Daniel Duigou, dem Pfarrer von Saint-Merry in Paris, erzählte er der Zeitung «La Croix» von diesem Treffen, bei dem der Papst von Beginn weg ? schon mit seinem handgeschriebenen Brief vom 13. August ? für den richtigen Ton gesorgt hatte. In diesem Brief hatte er seinem «lieben Bruder» ein Treffen im Gästehaus Santa Marta, wo er wohnt, vorgeschlagen. «Ist das für Sie in Ordnung?», hatte er bezüglich des Datums und der Zeit gefragt, und schliesslich hatte er sich noch für sein nicht sehr geübtes Französisch entschuldigt und mit «Brüderliche Grüsse, Franziskus» unterschrieben.  
Der Papst kam lange vor der vereinbarten Zeit herein  
«Wir sind Brüder», betonte Jorge Bergoglio, als er in einem Sessel im Warteraum von Santa Marta Platz nahm, wo Mgr. Gaillot und Père Duigou soeben eingetroffen waren. Ziemlich lange vor der vereinbarten Zeit war der Papst hereingekommen, allein, unangekündigt. Der ehemalige Bischof von Evreux übermittelte ihm die «Freude aller Armen, die sich durch diese Begegnung anerkannt fühlen». «Sie sind ein Gottesgeschenk für die Welt», brach es aus ihm heraus. Der Papst bemerkte, fast erstaunt: «Sie sind Bischof von Partenia ? seit 20 Jahren.»  
Mgr. Gaillot war seit einer Audienz bei Johannes Paul II. im Januar 1996, nach seinem unfreiwilligen Rücktritt in Evreux, nicht mehr im Vatikan gewesen. Aber von der Vergangenheit wurde nicht gesprochen. «Der Papst interessierte sich für die Gegenwart, wollte wissen, was Mgr. Gaillot heute für die Ausgeschlossenen, für die Migranten bedeutet. Er hat ihn ermutigt, seine Mission fortzuführen», sagte der Priester Daniel Duigou, überrascht, dass er bei diesem Treffen dabei sein durfte.  
Der Papst gibt dem Balkan den Vorzug vor einer Frankreichreise  
Der Pfarrer von Saint-Merry erklärte dem Papst die Besonderheiten seiner Pfarrei. Der Papst erwies sich als «guter Zuhörer»; er erinnerte daran, dass er selbst sich «vor allem als Priester» fühle. Zu keinem Zeitpunkt hatte Mgr. Gaillot das Gefühl, dass über ihn «geurteilt» wurde, dass seine Aussagen «abgeblockt» wurden. Der Bischof aus Frankreich erwähnte, dass er gelegentlich wiederverheiratete Geschiedene segnet, manchmal auch homosexuelle Paare. «Der Segen, das ist Gottes Güte für alle», antwortete der Papst. Das Oberhaupt der katholischen Kirche vertraute ihnen zwar an, dass er «viel Arbeit» habe, und Mgr. Gaillot betonte wiederholt, er wolle ihm nicht die Zeit stehlen, aber der Papst schien es nicht eilig zu haben: «Er wirkte entspannt, glücklich, als wäre das Gespräch für ihn eine Erholungspause.»  
Eine Pause, die mehr als 45 Minuten dauerte und wo keiner irgendwie Druck ausübte oder etwas forderte. «Ich habe nichts von ihm verlangt», versichert der Bischof. Abgesehen von der Frage, ob der Papst nach Frankreich kommen würde. Papst Franziskus erwiderte ihnen, er würde den «kleinen Ländern, die Schwierigkeiten haben», den Vorzug geben. Er sprach von einer möglichen Balkanreise.  
Photographié avec le portable du P. Daniel Duigou  
Das Gespräch nahm in aller Ungezwungenheit seinen Lauf, mit diesem Papst, bei dem man «vergisst, beim Papst zu sein», wie sich ein französischer Kardinal einmal ausdrückte. Dieser Eindruck deckt sich mit der Beschreibung durch Mgr. Gaillot und Père Duigou. Dieser Papst ist von einer geradezu verwirrenden Einfachheit: Am Ende der Unterredung fragte er seine Gäste, ob sie mit einem Fotografen gekommen seien. Als sie dies verneinten, verliess er den Raum, um zu schauen, ob vielleicht einer in Santa Marta zu finden sei. Dem war nicht so und so behalfen sich die drei mit dem Handy von Père Duigou, der sein Bestes tat, um das Ereignis festzuhalten.  
Indem er Mgr. Jacques Gaillot empfängt, stellt Papst Franziskus die Einheit über den Konflikt  
Dieser Empfang von Jacques Gaillot durch den Papst am Nachmittag des 1. September ist alles andere als ein unbedeutendes Ereignis. Franziskus selbst hat ja die Barmherzigkeit zur Devise seines Pontifikats gemacht, sie steht im Zentrum seiner priesterlichen Tätigkeit. Er bestätigt damit dem ehemaligen Bischof von Evreux, dass Begegnung, Dialog, Einheit nicht bloss leere Worte sind.  
«Wie schön wäre es doch, wenn alle sehen könnten, wie wir zueinander Sorge tragen. Wie wir uns gegenseitig ermutigen und einander begleiten»: Von diesem seinem Traum sprach er am 7. Juli am Schluss einer Predigt über die Einheit während einer Messe in Quito, Ecuador.  
Mgr. Jacques Gaillot vom Papst nach Rom eingeladen  
Im November 2014 hatte Jacques Gaillot dem Papst geschrieben, um ihm seine «Dankbarkeit» auszudrücken.  
Mgr. Jacques Gaillot, im Jahre 1995 als Bischof von Evreux seines Amtes enthoben und seitdem Bischof von Partenia (Mauretanien), sollte sich am 1. September um 16 Uhr zu einer Unterredung mit dem Papst im Vatikan einfinden. Daniel Duigou, der Priester, der sich bereit erklärt hatte, um die Kommunikation besorgt zu sein, hatte im Vorfeld erklärt, es werde «eine persönliche Begegnung zwischen zwei Männern sein, die einander durch ihre Sensibilität und ihr Engagement zugunsten der Armen sehr nahe sind».  
Mgr. Gaillot, der am 11. September seinen 80. Geburtstag feiern konnte, hatte Papst Franziskus im November 2014 ein «Unterstützungsschreiben» zukommen lassen. Er schrieb darin, er sei «dankbar für all die Anstrengungen, die Sie unternehmen, damit die katholische Kirche die Zeichen der Zeit erkennt ? um den Familien unserer modernen Gesellschaften Türen aufzustossen: Familien von Geschiedenen, kinderlosen Familien, Einelternfamilien, Patchwork-Familien, gleichgeschlechtlichen Partnerschaften?» Allerdings erwähnte er bezüglich der ersten Familiensynode, er hätte den verabschiedeten Text «enttäuschend» gefunden.  
Nachdem er sich in seiner Entourage umgehört hatte, beschloss der Papst, dem ehemaligen Bischof von Evreux zu antworten. Zuerst hatte er ihn angerufen, dann hatte er ihm eine eigenhändig geschriebene Einladung zu einem gemeinsamen Treffen in Rom gesandt. Als Datum wurde der erste September festgelegt. Zunächst kannte man weder die vorgesehene Dauer noch den Inhalt der Begegnung. Mgr. Gaillot wollte sich dazu erst nachher öffentlich äussern. ?  
Im März 1961, nach seinem in Algerien geleisteten Militärdienst wird Jacques Gaillot in der Diözese Langres (Haute-Marne) zum Priester geweiht. Er wird mit verschiedenen pastoralen Aufgaben betraut, am Seminar von Reims, in Saint-Dizier und in der Diözese Langres; 1982 wird er zum Bischof von Evreux ernannt.  
Sehr bald fällt der junge Bischof durch seine Stellungnahmen auf: Zugunsten eines jungen Militärdienstverweigerers, der 1983 in Evreux vor Gericht steht; gegen die Verlautbarung der Bischöfe über die nukleare Abschreckung im selben Jahr; zur Unterstützung des palästinensischen Aufstands in den besetzten Gebieten 1985; zugunsten der Weihe verheirateter Männer 1988 usw.  
Bischof von Partenia im Jahre 1995  
Infolge dieses politischen Engagements und seiner starken Präsenz in den Medien wird ihm vorgeworfen, zu oft von seiner Diözese abwesend zu sein. Mgr. Joseph Duval, der Präsident der französischen Bischofskonferenz, und Kardinal Albert Decourtray versuchen wiederholt, ihn zu warnen und ihm «seine Pflichten als katholischer Bischof» in Erinnerung zu rufen.  
13. Januar 1995, Absetzung von Mgr. Gaillot  
Am 13. Januar 1995 ? gemäss ihm nahestehenden Personen weilt Johannes Paul II. zu dieser Zeit nicht in Rom ? fällt die Kongregation für die Bischöfe ihren Entschluss: Mgr. Jacques Gaillot wird Titularbischof von Partenia in Mauretanien, ein Bischofssitz, mit dem seit Jahrhunderten keine konkreten Verantwortlichkeiten mehr verbunden sind.  
Neuausrichtung  
Für die Öffentlichkeit ist Mgr.Gaillot fortan der «Bischof der Armen». Er wohnt zuerst in einem besetzten Haus, dann bei den Spiritanern im 5. Arrondissement von Paris, wo er am gemeinsamen spirituellen Leben teilnimmt. Er setzt sich weiterhin für Sans-papiers und Obdachlose ein. Durch seine Homepage partenia.org bleibt er mit seinen Freunden in Verbindung. Im Dezember 1995 wird er von Johannes Paul II. in Rom empfangen. Seine Vertrauten interpretieren dieses Treffen als Zeichen, dass der Papst «nicht dran schuld war».  
   
Ein schmerzlicher Bruch  
Im Mai 2000, anlässlich des Jubeljahres, ergreift Mgr. Louis-Marie Billé, Präsident der französischen Bischofskonferenz und Erzbischof von Lyon, die Initiative und lädt ihn zu einem ökumenischen Treffen ein. In einem Brief teilt er ihm mit, er bleibe «sehr wohl unser Mitbruder im Bischofsamt». Der ehemalige Bischof von Evreux hat seinerseits immer noch den Eindruck, von der französischen Bischofskonferenz geächtet zu sein, denn für die Plenarversammlungen in Lourdes erhält er keine Einladungen.  
Unterstützung einer Roma-Familie in Saint-Ouen im August  
Auf seiner Internetseite (im Sommer aktualisiert) hatte Mgr. Gaillot erklärt, er beabsichtige, mit bald 80 Jahren «dem Schweigen und dem Gebet» mehr Platz einzuräumen. Aber die Zeitung «Le Parisien» berichtete noch am Freitag, 28. August, er habe sich nach Saint-Ouen (Seine-Saint-Denis) begeben, um eine aus einem Lager vertriebene Roma-Familie zu unterstützen, die dann vor dem Rathaus kampierte. «Wenn man zusammen kämpft, gewinnt man immer», hatte er ihnen zugerufen.  
Sébastien Maillard, Rome
«Témoignage Chrétien» (Wochenzeitschrift «Christliches Zeugnis»)
Als Jacques Gaillot 1995 den Zorn des Vatikans auf sich zog, war «Témoignage Chrétien» auf Initiative des Zeitungsdirektors Georges Montaron an vorderster Front, um den Bischof von Evreux zu unterstützen. Die Tatsache, dass jetzt Papst Franziskus denjenigen, der zum «Bischof der Ausgeschlossenen» geworden ist, auf so brüderliche Art zu sich einlädt, bedeutet nichts weniger als die Anerkennung all derer, für die sich Jacques Gaillot seit zwanzig Jahren einsetzt, und eine gute Nachricht für alle, die glauben, dass Christus auf der Seite der Armen ist. Wir danken Jacques Gaillot, dass er seine Freude über diese Begegnung mit uns teilt.
TC: Können Sie uns schildern, was an diesem Dienstag 1. September geschehen ist?
Jacques Gaillot: Alles begann mit einer Nachricht, die ich erhalten habe. Papst Franziskus hat mich mehrmals angerufen und ich war jedes Mal abwesend. Auf meinem Telefonbeantworter fand ich folgende Nachricht: «Ich bin Papst Franziskus!» Er wollte mich treffen. Und etwas später erhielt ich dann diesen kurzen Brief, ganz in seinem Stil. Und so begab ich mich am vergangenen Dienstag mit meinem Freund Daniel Duigou zur Casa Santa Marta. Als wir ankamen, führte uns ein Laie in einen Wartesaal ? es war ein kleiner, einfacher Raum ohne grossen Komfort ? und sagte uns, man würde uns dann rufen. Kaum zwei Minuten später ging die Tür auf und da kam er, der Papst, ganz allein, ohne die «Monsignori», die ihn üblicherweise bei Papstaudienzen begleiten. Er kommt also herein, nimmt den erstbesten Sessel und setzt sich neben uns. Ich bot ihm meinen bequemeren Sessel an, aber er lehnte freundlich ab und betonte erneut: «Wir sind Brüder».
Ich legte los: «Ich möchte Ihnen herzlich danken, dass Sie uns hier empfangen, und Ihnen sagen, dass diejenigen, die von diesem Besuch wissen, sehr glücklich sind; sie sind wahrscheinlich noch glücklicher als ich selbst! Sie finden das grossartig, sie sagen mir nämlich, dass ich sie vertrete. Alle: Die Menschen ohne Wohnung, ohne Papiere, die Flüchtlinge? Ich selber verlange nichts, aber sie haben Ihnen viel zu sagen!»
Der Papst lächelte. Ich erzählte ihm von diesem jungen Mann in der psychiatrischen Klinik, der sich so gefreut hatte: «Wenn er dich empfängt, ist das so, wie wenn er mich anerkennen würde!» Sehen Sie, dieser Empfang ist eine Wohltat für sehr viele Leute.» Der Papst hat sich sehr für die Erfahrungen von Daniel interessiert, dem Pfarrer von Saint-Merry, dessen Kirchgemeinde beim Empfang der Flüchtlinge eine Pilotrolle spielt. Er wiederholte mit Nachdruck einen Satz, der für ihn wesentliche Bedeutung hat: «Die Migranten sind das ´Fleisch´ der Kirche.» Er erinnerte daran, dass er selbst ein Immigrant sei. Ich gab ihm Recht: Franziskus ist weit weg von seinem Land und seinem Volk, wie sie. Es ist nicht leicht, aber er hält durch.
Ich erklärte ihm, es seien zwanzig Jahre vergangen, seit ich vor die Tür gesetzt, ausgeschlossen wurde?. «Aber indem sie mich ausschloss, hat mir die Kirche sozusagen den Pass gegeben, der es mir erlaubte, zu den Ausgegrenzten zu gehen!» Er lachte und erinnerte uns an das Bild aus der Offenbarung des Johannes, dass er vor seiner Wahl zum Papst am Konklave gebraucht hatte: «Christus klopft an die Kirchentür, aber er klopft von innen! Er will, dass wir die Türen weit aufstossen! Damit er hinaus kann! Damit er der Welt und der Menschheit entgegengehen kann.» Ich antwortete ihm, dass man effektiv Den, der gekommen ist, um uns zu befreien, nicht einsperren sollte.
Als wir uns verabschiedet hatten und aus dem Santa Marta getreten waren, sagte Daniel zu mir: «Dreh dich um, er ist immer noch da!» Und tatsächlich stand er dort auf der Türschwelle, er schaute uns nach und schien zu warten und nicht wieder hineingehen zu wollen. Vielleicht ist das nicht sehr respektvoll, aber ich habe ihm im Weggehen kurz zugewinkt. Wir verabschiedeten uns von ihm wie von einem Freund ? ein Freund, der sich in einer misslicheren Lage befindet als wir: Er ist irgendwie Gefangener des Vatikans!
Er war sichtlich zufrieden, uns getroffen zu haben. Wir haben ihn nicht gelangweilt! Wir haben ihm Hoffnung gebracht. Eine schöne Begegnung mit einem einfachen, geradlinigen, absolut freien Mann. So sollte die Kirche sein.
Aufgezeichnet von Agnès und Jean-Baptiste Willaume
Gespräch mit Mgr. Jacques Gaillot nach seinem Treffen mit dem Papst
Foto unten: Der Papst empfängt Mgr. Gaillot (Foto: P. Daniel Duigou)
 
Deutsche Übersetzung des Interviews. (pdf)