carnet de route
 
Reise nach Seoul  
Gnadenlose Evakuierung  
Bürgertagung  
Ein Lichtblick  
   
   
Reise nach Seoul  
   
Als Eingeladener der Föderation für universellen Frieden begebe ich mich zum ersten Mal in meinem Leben nach Korea zu einem Kongress, an dem über Konfliktlösung ausgetauscht und beraten wird.
féderation pour la paix
 
   
Majestätisch wie ein riesiger Vogel hebt die voll besetzte Boeing 747 ab. Auf einem Monitor kann ich die Reise mit verfolgen; von Paris nach Seoul sind es etwa 9OOO Kilometer. Wir überfliegen die Ostsee, dann Russland, die Mongolei und China. Vor meinem geistigen Auge stelle ich mir die jeweiligen Völker vor, denke an ihre Geschichte.  
   
représentantes internationales Ich sitze neben einer charmanten Koreanerin, deren einziger Fehler darin besteht, kein Französisch zu sprechen.
 
   
Wir sind nun auf der Höhe von Peking, nähern uns Seoul. Der Flughafen befindet sich auf einer Insel. Ich besteige einen Bus, der zwei Stunden bis ins Stadtzentrum braucht. Überall ragen hohe Gebäude in den Himmel. Es herrscht ein sehr starker Verkehr. Mein Hotelzimmer ist im 20. Stockwerk. Ich teile es mit einem Teilnehmer, den ich noch nicht kenne.  
   
87 Länder sind vertreten. Die verschiedenen Teilnehmer haben viele interessante Erfahrungen zu berichten, es ist sehr lehrreich. So erinnert der ehemalige Präsident von Costa Rica, dem kleinen mittelamerikanischen Staat zwischen Panama und Nicaragua, daran, dass sein Land als einziges auf der Welt die Armee abgeschafft hat. Das ist jetzt schon 60 Jahre her! Sein Land lebt im Frieden und wird respektiert. Er hat Friedensuniversitäten gegründet, wo er eine Kultur des Friedens vermittelt.  
   
Der jetzige Premierminister von Aserbaidschan spricht von den 16 Jahren des Konflikts zwischen seinem Land und Armenien. Der Sekretär des Premierministers von Nepal spricht von den 12 Jahren, während denen sein Land zerrissen war.  
   
In den meisten Beiträgen ist die spirituelle Dimension klar erkennbar. Es wird auf gemeinsame, verbindende Werte hingewiesen: Die Wahrheit, die Gerechtigkeit, die Geschwisterlichkeit. Den Religionen kommt eine wichtige Rolle zu.  
   
dimension spirituelle
 
   
Das Beispiel Nelson Mandelas wird zitiert. Nach 27 Jahren im Kerker hat er nicht danach getrachtet, sich an den Weissen zu rächen. Er hat für den Wiederaufbau des Landes die Hilfe der Weissen in Anspruch genommen. Er brauchte alle. Durch Hass und Rachegedanken kann man seinen Feind nicht für sich gewinnen.  
   
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Gnadenlose Evakuierung  
   
Die Sans-Papiers, welche während mehr als einem Jahr das Gewerkschaftshaus besetzt hatten, sind von einer Gewerkschaftsorganisation mit aller Härte aus dem Gebäude vertrieben worden. Gewöhnlich wird diese Arbeit von der Polizei ausgeführt. Heute sind es die „starken Männer“ einer Gewerkschaft – verkehrte Welt!  
   
Bourse du travail Die Vertriebenen stehen in einem Haufen auf dem Trottoir in der Nähe der Bourse du Travail, aus der man sie verjagt hat. Ich bin im Nu bei ihnen. Was für ein Schauspiel mitten in Paris! Auch die Frauen haben nicht aufgegeben, sie rühren sich nicht vom Fleck, trotz der glühenden Sonne. Auf einem Plakat steht ein furchtbarer Satz: «Wenn ihr sagt, dass die menschlichen Wesen mehr wert sind als die Tiere, dann beweist das!»
 
   
Sissoko, der Wortführer der Gruppe, ist gern bereit, in der gegenüber liegenden Bar einen Kaffee trinken zu gehen. Die Frau, die am Tresen die Gäste bedient, kann ihre Gefühle nicht zurückhalten und sagt uns: «Es ist traurig, was da auf dem Trottoir vor sich geht. So sollte man mit den Leuten nicht umgehen. Es sind Menschen wie wir. Alle Quartierbewohner sind derselben Meinung. Ich weiss nicht, was ich für sie tun kann.» Ich bin ihr dankbar für diese Worte. «Es war eine gute Idee, bei Ihnen eine Tasse Kaffee trinken zu gehen. Sie machen uns Mut. Danke.»  
   
Sissokos Aufgabe ist nicht einfach. Er lässt sich aber nicht aus der Ruhe bringen. Alle Afrikaner, die dort auf der Strasse stehen, sind mit ihm.
Sissoko
 
holder
 
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Bürgertagung  
   
Als ich eines Morgens sagte, ich hätte vor, nach Fleury-Mérogis im Süden von Paris zu fahren, bekam ich zur Antwort: «Gehst du zum Gefängnis?» Wenn jemand Fleury-Mérogis sagt, dann meint er in der Tat meistens das grösste Gefängnis Frankreichs, ja, es soll sogar das grösste in ganz Europa sein. 4000 Personen – ein grosses Dorf!  
   
à Fleury-Mérogis Ich musste nicht zum Gefängnis, sondern zur Stadtverwaltung. Der kommunistische Bürgermeister und sein Stellvertreter hatten mich zu einer Unterredung eingeladen. Es ging um die für September vorgesehene Bürgertagung, an dem über Wohnungs-, Erziehungs- und Gesundheitsprobleme diskutiert werden soll.
 
   
«Bürger»: Dieser Begriff hat heute eine grosse Bedeutung; er bedeutet, dass jeder eine Verantwortung trägt für das Gemeinwesen und diese Verantwortung aktiv wahrnehmen soll. Nicht nur zum Zeitpunkt der Wahlen, sondern in allen Belangen, die das Zusammenleben betreffen.  
   
Sind wir nicht aufgerufen, die geografischen, religiösen und kulturellen Grenzen zu überschreiten, um Weltbürger zu werden? Wie schwierig ist es aber, im Antlitz des Anderen das zu sehen, was wir gemeinsam haben, statt sich sofort auf die Unterschiede zu konzentrieren!
dépasser les frontières
 
   
Der Bürgermeister ist dafür, dass die Bürgertagung mit einem Aperitif und einem Buffet ausklingen soll. Er hat Recht. Aber wieso soll das Fest erst am Ende stattfinden? Kann die Bürgertagung nicht von Anfang bis Ende ein Fest sein? Statt Experten zu engagieren und sich ihre Vorträge anzuhören über das, was gedacht und getan werden soll, kann man doch den Bürgern selbst das Wort geben, damit es zu einer allgemeinen Diskussion kommt.  
   
Der Herr Bürgermeister stimmt dem zu und findet, es sei Zeit, essen zu gehen.  
   
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Ein Lichtblick  
   
squat à Bordeaux Ich begebe mich erneut nach Bordeaux, um zu den Leuten zu stossen, die vor einigen Monaten die leeren Räume einer ehemaligen Garage besetzt haben. Wir freuen uns über das Wiedersehen.
 
   
Die Lokale werden gut instand gehalten. Es ist ein offener Begegnungsort. Die Gewerbetreibenden des Quartiers unterstützen sie (was ziemlich selten vorkommt).  
   
Gegen Abend empfängt die CUB (Städtegemeinschaft von Bordeaux) eine Delegation. Wir sind zu viert und werden von den Kabinettsvorstehern der CUB und der Stadtverwaltung empfangen. Sie sind mit den Projekten, die von den Aktivisten der Association erarbeitet worden sind, sehr zufrieden.  
   
- Ein Projekt für temporäre Beherbergung. Es hat 12 Plätze und die sind bereits alle besetzt. Die dort aufgenommenen Personen warten auf eine Wohnung.
 
- Ein Ort, an den sich Obdachlose tagsüber wenden können, wo sie morgens das Frühstück bekommen.
 
- Eine genossenschaftlich organisierte Garage, wo Autobesitzer mit kleinen finanziellen Ressourcen ihren Wagen reparieren lassen können. Das Projekt ist im Anfangsstadium.
 
   
Die Kabinettsvorsteher geben ihr Einverständnis. Sie sind froh, dass diese Projekte von der Basis kommen und zukunftsträchtig sind. Das Gelingen dieser Vorhaben würde es anderen Organisationen erlauben, ähnliche Initiativen zu ergreifen. Keine Rede mehr von einem Prozess. Das ist vorbei, nun ist ein Neuanfang möglich.  
   
Wir gehen ins besetzte Haus zurück und erstatten Bericht über das, was geschehen ist. Es sind etwa zwanzig Personen, die aufmerksam zuhören. Ihre Mienen hellen sich auf. Dann setzen wir uns an den Tisch. Es wird ein kleines Festessen sein.
une embellie