carnet de route
 
«Alle lügen»  
Es wird regnen über Conakry  
Ein Freund ist nicht mehr  
Die «Fünf Kubaner von Miami»  
   
   
«Alle lügen»  
   
Eine vom Fernsehen her bekannte Journalistin hat ein Buch über die Lüge herausgegeben. Ich hatte nicht die Möglichkeit gehabt, davon Kenntnis zu nehmen, aber eine Wochenzeitung wollte dazu mit uns beiden ein Interview machen.
Die Journalistin kam sofort zur Sache:
«Ich stelle fest, dass alle lügen.»
Dem Interviewer kam dieses effektvolle Statement sehr gelegen:
«Ein Mann der Kirche muss doch protestieren, wenn er eine solche Behauptung hört!»
Ich antwortete: «Die Lüge ist ein Schutz und ermöglicht es einem, einer schwierigen Situation aus dem Weg zu gehen».
In der Bibel lesen wir, wie Abraham, der Vater der Glaubenden, log, um sein Leben zu retten. Da seine Frau sehr schön war, sagte er sich: «Wenn ich nach Ägypten komme, wohin ich wegen der Hungersnot gezwungenermaßen gehen muss, werden sie mir meine Frau wegnehmen und mich töten. Die einzige Möglichkeit für mich: Ich gebe Sarah als meine Schwester aus».
Vor kurzem war ich bei einem Sterbenden. Ein Mann von 50 Jahren, den ich gut kannte. Er versuchte, mir etwas sehr Wichtiges zu sagen, hatte aber Mühe, die Worte zu artikulieren. Ich verstand ihn nicht und sagte es ihm. Er war verstimmt und versuchte wieder etwas zu sagen. Seine Augen fixierten mich. Ich gab ihm durch Zeichen zu verstehen, dass ich verstanden hatte, obwohl es nicht stimmte. Er nahm sein Geheimnis mit ins Grab.
 
   

Die Journalistin sprach von der Lüge in der Politik. «Die Politiker machen oft Versprechungen, von denen sie wissen, dass sie nicht realisierbar sind. Gleichzeitig scheuen sie sich nicht zu sagen, dass sie für Transparenz sind.»

Der Interviewer wandte sich an mich. «Ist Lügen gefährlich?»
«Es ist gefährlich, sich selbst zu belügen, das heißt, sich von sich selber ein falsches Bild zu machen und so zu leben. Die Befreiung geschieht, indem man ehrlich ist mit sich selber.
Es ist gefährlich, die Bürger falsch zu informieren. Neulich gab es einen Unfall in einem Atomkraftwerk. Die offiziellen Communiqués klangen beruhigend, aber es war nicht die Wahrheit.»

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Nach diesem Interview habe ich doch noch Lust, das Buch übers Lügen zu lesen.  
   
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Es wird regnen über Conakry  
   
Ich gehe gern ins Kino, wenn ich kann, also selten. Aber ich fand Zeit, um mir einen Film aus Guinea anzusehen: « Es wird regnen über Conakry».
Ein Journalist und Karikaturist, aufgeschlossen, mit progressiven Ideen, gerät in einen Konflikt mit seinem Vater und seinem älteren Bruder, die sehr konservativ sind und die religiösen Praktiken und die Familientraditionen hochhalten. Der Journalist ist verliebt in eine Informatikerin, die der Wunschfrau der Familie überhaupt nicht entspricht. Es sind zwei verschiedene Welten, mit einem unüberbrückbaren Graben dazwischen. Die Tragödie ist vorprogrammiert.
 
   
scene de film Der Film zeigt gut auf, wie das Wissen hilft, die Intoleranz zu besiegen. Ist Toleranz nicht das Anerkennen des Rechts auf Ansichten und Wahrheiten, die den Unsrigen widersprechen?
 
   
Dieser junge Journalist musste gewisse Grenzen überschreiten, um zu seiner Selbstständigkeit zu finden. Er riskierte es, sich über die ihm durch Familie und Religion auferlegten Einschränkungen hinwegzusetzen, um sich selbst zu verwirklichen. Er ist das Abenteuer einer unbekannten Zukunft eingegangen. Er hat verstanden, dass einige Praktiken und Traditionen für die Menschen im Alltagsleben nicht mehr hilfreich waren, dass sie ihn sozusagen einsperrten.
Ein Film sowohl über die Befreiung als auch über das Einsperren der Menschen. Immer aktuell.
 
   
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Ein Freund ist nicht mehr  
   
Jean-Jacques ist schnell von uns gegangen, ohne irgendjemand zu beunruhigen.
Kurze Zeit vorher hatte ich ihn angerufen. Er hatte mir geantwortet:

«Ich bin mit dem Auto unterwegs. Ich fahre zum Gefängnis und besuche Marina.» Marina, die Italienerin im Hungerstreik, die an Italien ausgeliefert werden soll.
 
   
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Ich dachte bei mir selbst – voller Bewunderung für diesen Mann: «Dieser Anwalt ist krank. Er ist achtzig Jahre alt und setzt sich selbst ans Steuer seines Wagens, um im Gefängnis eine Frau zu besuchen, die sich in einer schlimmen Lage befindet.»
Ich dachte an den großen ägyptischen Cineasten Youssef Chahine, der vor kurzem von uns gegangen war. Er hatte gesagt:

«Ich gehe auf die Leute zu, ich kenne keine Grenzen.»
 
   
So war auch Jean-Jacques: Ein Verteidiger der Menschenrechte, der keine Grenzen kannte, ein Anwalt der Minderheiten, ob es sich um algerische Aktivisten handelte, die im Gefängnis waren, weil sie für die Unabhängigkeit ihres Landes kämpften, oder um Kanaken aus Neukaledonien; um Larzac-Bauern, Militärdienstverweigerer aus Gewissensgründen, Gegner der Versuche im Zusammenhang mit genmanipulierten Organismen, Arbeitslose, gefangene Kurden, Basken oder Italiener, die von der Auslieferung bedroht waren. Wie oft hatte mir Jean-Jacques gesagt: «Könntest du nicht zum Gericht kommen? Es wäre gut, wenn du da wärst».  
   
Ein heißer, schwüler August-Nachmittag auf dem Père-Lachaise-Friedhof in Paris. Eine Menschenmenge drängt sich vor dem Krematorium. Wie leblos und hässlich kommt mir dieser Ort vor!
Viele wollen etwas sagen, zu viele. Ich bin an der Reihe und ich erinnere daran, dass Jean-Jacques bis zum Schluss sich dort hinbegab, wo Männer und Frauen in Gefahr waren. Bis zuletzt hat er die Begegnung mit diesen Menschen gesucht. Weiter kann er nicht gehen.
disparition d'un ami
 
   
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Die «Fünf Kubaner von Miami»  
   
Zum Unabhängigkeitsfest hat mich die kubanische Botschaft in Paris eingeladen. Da ich Mitglied des internationalen Solidaritätskomitees zur Unterstützung der «Fünf von Miami» bin, hat sich diese Verbindung zu einigen Kubanern der Botschaft ergeben. Die Geschichte der «Miami Five» ist unglaublich!
Erinnern wir uns zuerst daran, dass zwei Männer, Luis Posada Carriles und Orlando Bosh, im Oktober 1976 ein Linienflugzeug zwischen Caracas und Havanna zur Explosion brachten. 73 Passagiere kamen ums Leben.
Diese beiden Terroristen genossen absolute Straffreiheit.
 
   
Les cinq Cubains de Miami Was die «Fünf Kubaner von Miami» betrifft, Agenten des kubanischen Nachrichtendienstes, so befanden sie sich in Florida, um terroristische Akte gegen Kuba zu verhindern.
 
   
Sie wurden 1998 verhaftet und zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt: 15 Jahre bis lebenslänglich. Man glaubt zu träumen!
Sie werden beschuldigt, eine Gefahr für die Sicherheit der USA darzustellen. In Hochsicherheitsgefängnissen müssen sie dafür bezahlen, dass sie gegen den Terrorismus gekämpft haben. Es ist ein politischer Prozess.
Schon zehn Jahre sind sie nun eingesperrt. Für die Familien ist es eine Tragödie. Sie werden unmenschlich behandelt, Ehefrauen haben noch immer kein Besuchsrecht.
Zum Glück hat sich eine internationale Solidaritätsbewegung entwickelt. Es gibt weltweit mehr als 200 Solidaritätskomitees, die Gerechtigkeit fordern.
Tony, einer der «Fünf», schreibt:
 «Wenn ich die Wärter sehe, ist meine erste Reaktion lächeln. Um sie glauben zu machen, dass ich zufrieden bin, obwohl ich innerlich sterbe.»