Fragen der Zeit
 
Man hat neulich gesehen, wie Sie Yvan Colonna, den mutmaßlichen Mörder des französischen Präfekten von Korsika, Claude Erignac, verteidigt haben. Ich verstehe, dass es ein Prinzip der Unschuldsvermutung gibt, aber was hat ein Bischof in einer derartigen Vernehmung zu suchen?
 
   
Muss ein Bischof nicht auf der Seite der Angeklagten und Verurteilten stehen? Wieso will man ihn auf der Seite der Ordnungshüter und der Wohlanständigen haben? Die Subversivität des Evangeliums stellt unsere Standpunkte auf den Kopf.  
   
Yvan Colonna Ich wurde aufgefordert, dem Unterstützungskomitee für Yvan Colonna beizutreten, damit das Recht auf die Unschuldsvermutung gewahrt bleibe und um einen gerechten Prozess zu verlangen. Von höchster staatlicher Stelle und in den Medien wird Yvan Colonna in Tat und Wahrheit als Mörder des Präfekten in Korsika bezeichnet. Daran wird kein Zweifel gelassen.
Yvan hat schon mehr als vier Jahre im Gefängnis verbracht und davon zwei in Isolationshaft. Die bedingte Freiheit wurde ihm verweigert. Wird der Prozess, der nun endlich beginnt – fair sein?
 
   
Die Reform der Sonderregelungen bei den Renten hat zu Unruhen geführt, der Eisenbahnerstreik hat das Land lahm gelegt. Scheint Ihnen dieser Streik gerechtfertigt zu sein?
 
   
Ja, ich bin mit den Eisenbahnern solidarisch. Sie riskieren den Streik nicht aus Spaß und gehen nicht fröhlichen Herzens auf die Straße! Da man auf ihre Forderungen nicht eingeht, bleibt ihnen nur noch der Streik als letztes Mittel.  
   
cheminots en grève Der Streik der öffentlichen Verkehrsbetriebe ist eine gefürchtete Waffe, das ganze Land ist betroffen. Jeder Tag ist ein Tag zuviel.
 
   
Es wäre ein Irrtum, die Macht derer zu unterschätzen, die ganz unten an der Basis der Gesellschaft sind. Die Entscheidungsträger können nicht ohne sie entscheiden, können nicht bestimmen, ohne sie anzuhören und ohne mit ihnen zu verhandeln.  
   
Pakistan scheint wiederum der Versuchung der Diktatur zu erliegen. Ist es Ihrer Ansicht nach möglich, in diesem Land die Demokratie und die Kontrolle über islamistische Tendenzen unter einen Hut zu bringen?  
   
Präsident Musharraf hat den Ausnahmezustand ausgerufen. Diese Maßnahme ist vielleicht für ihn gut, aber sicher nicht für sein Volk. Er ist nicht auf das Wohl seines Volkes bedacht, sondern auf seine Wiederwahl. Darum sein Vorgehen gegen das Oberste Gericht, das über die Gültigkeit seiner Wiederwahl befinden sollte.  
   
manifestation General Musharraf hat im Moment nur die Unterstützung der Armee, deren Chef er ist. Wie kann er ohne die Unterstützung seines Volkes gegen den wachsenden Einfluss der militanten islamistischen Extremisten ankämpfen? Und wenn er auch die ganze Macht in sich vereinen würde, er wäre bald isoliert und handlungsunfähig.
 
   
Die Rückkehr zur Demokratie setzt die Beteiligung des Volkes voraus sowie einen politischen Konsens, um gegen die islamistische Gefahr zu kämpfen. Aber dafür muss ein neuer Präsident oder eine neue Präsidentin abgewartet werden.  
   
Interview: Olivier Galzi  
   
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